Vielleicht sind Sie im Netz schon einmal über folgenden Artikel gestolpert:
Allein die 100.000+ Likes und 2000+ Kommentare (Stand: 12.11.2018) zeigen, dass das Thema einen Punkt trifft, den viele intuitiv teilen und als wichtig empfinden. Und man ist geneigt, diese Botschaft insbesondere Menschen ans Herz zu legen, die wir für talentiert halten und die dennoch zu wenig aus ihrem Potenzial machen – weil sie eben diese einfachsten Dinge, für die es kein Talent braucht, nicht tun.
Wir denken: Sie könnten, wenn sie nur wollten. Deshalb kritisieren wir ihre Einstellung, die sie doch leicht ändern könnten.
Wir können oft nicht, selbst wenn wir wollen!
Damit gibt es nur ein gravierendes Problem: Wir können oft nicht, selbst wenn wir wollen. Daran ändert auch Kritik meist wenig. Denn Kritik ist nicht mehr als Ausdruck von Hilflosigkeit der Führung. Warum das so ist, wollen wir exemplarisch an einem der Punkte erläutern:
Ein Beispiel: Being on time
Wir alle kennen das: Wir sind mit jemandem verabredet, sind selbst überpünktlich, warten dann eine gefühlte Ewigkeit, bis unsere Verabredung endlich verspätet erscheint – und sich nicht einmal dafür entschuldigt. Was für eine Frechheit!
Während wir warten und es immer später wird, fragen wir uns: Was könnte das Motiv für die Verspätung sein?
- Seine Uhr geht falsch.
- Er hatte noch etwas wichtiges zu erledigen.
- Die S-Bahn ist wieder einmal gestört.
- Er hatte einen Autounfall.
- Ich selbst habe mich in der Zeit geirrt.
- etc.
Wir suchen also situative Erklärungen für sein Verhalten. Und das ist auch gut so. Denn der allergrößte Teil des Verhaltens kann situativ erklärt werden.
Wenn der andere dann aber freudestrahlend ankommt und wir uns eigentlich freuen sollten, dass nichts Schlimmes passiert ist und wir unser Date in vollen Zügen genießen können, sind die situativen, nachvollziehbaren Erklärungen wie weggeblasen. Stattdessen suchen wir die Gründe in seiner Persönlichkeit.
Er wollte es nicht genug und deswegen nehmen wir es persönlich!
Wir sind auf einmal sicher:
„Es war ihm nicht wichtig, pünktlich sein, oder zumindest nahm er dies billigend in Kauf.” Und: „Er hätte pünktlich sein können, wenn er nur gewollt hätte. Etwas anderes war ihm ganz offensichtlich wichtiger.”
Das nehmen wir persönlich. So wie wir es tagtäglich Mitarbeitern persönlich nehmen, wenn sie die zehn Dinge nicht tun, für die es kein Talent braucht.
Denn für was es kein Talent braucht, kann von jedem getan werden, ohne langen Lernprozess.
Kein Talent – sondern stärker: Teil einer Prägung
Genau darin liegt aber der Fehler, wenn wir an Dinge wie „Being on time” denken. Denn neben den situativen Bedingungen, denen Menschen ausgesetzt sind und die Verhalten bedingen, wirken sich unsere Dispositionen (Neigungen) auf unser Handeln aus. Wir entscheiden uns in dem Sinn nicht einfach unpünktlich zu sein; wir folgen einer mehr oder weniger starken Neigung, die wir von Kindesbeinen an gelernt haben. Dabei wollen wir nicht unpünktlich sein, wir wollen nur etwas anderes mehr.
Das heißt nicht, dass wir nicht rational auch anders entscheiden und unsere Dispositionen sozusagen overrulen könnten. Es heißt nur, dass dies viel schwieriger ist, als der Ausgangsartikel uns suggeriert.
Was heißt das für die Führung?
Auch bei den Dingen, für die es vermeintlich kein Talent braucht, profitiert der Mitarbeiter von jemandem, der ihn dabei unterstützt, sein Potenzial abzurufen. Dabei helfen ihm Kritik und Bestrafung eher weniger. Es gibt zum Glück vielfältige und bessere Möglichkeiten, wie die Führungskraft auf Situationen und Neigungen positiv einwirken kann, z.B.:
- Die Situation so umgestalten, dass ein Verhalten wahrscheinlicher bzw. unwahrscheinlicher wird (da Situationen ohnedies viel stärker wirken als Dispositionen)
- Den Sinn, die Bedeutung und gegebenenfalls die Auswirkungen des gewünschten Verhaltens kommunizieren
- Das gewünschte Verhalten loben oder belohnen, wenn es einmal eintritt
- Bezüglich des gewünschten Verhaltens konsequent selbst als Vorbild agieren
In diesem Sinne: Bis bald und be inspired!
P.S. Hier geht’s nochmal zum Original-Artikel von Molly Fletcher: 10 Things That Require ZERO Talent